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Zum Gedenken H.R. Giger: «Ich kann nur mit Leuten normal reden, die ich gut kenne»
Von Bruno Bötschi und Michael Solomicky
17.5.2020
Vor sechs Jahren verstarb H.R. Giger. Mit seinem Monster für den Film «Alien» wurde er weltberühmt. Zum Gedenken an den Schweizer Künstler mit den düsteren Werken veröffentlicht «Bluewin» ein älteres Interview.
Der Monster-Schöpfer und Oscar-Preisträger H.R. Giger starb am 12. Mai 2014 an den Folgen eines Sturzes. Weltbekannt wurde er mit seinen Entwürfen für Ridley Scotts Science-Fiction-Film «Alien» aus dem Jahr 1979.
Giger bekam für diese Arbeit den Oscar in der Kategorie «Beste Visuelle Effekte». Seine düster-aggressiven Geschöpfe wurden später in Ausstellungen für Moderne Kunst gezeigt. Dabei wollte er mit seinen Monstern gar nicht schockieren. Ihm ging es vielmehr darum, sich seine Ängste vom Leib zu halten.
«Bluewin»-Redaktor Bruno Bötschi konnte im November 2007, als er noch für die «Schweizer Familie» tätig war, zusammen mit Redaktionskollege Michael Solomicky ein längeres Interview mit Giger führen. Zum Gedenken an den grossen Schweizer Künstler publiziert «Bluewin» das Gespräch nochmals.
Herr Giger, sind Ihre Nachbarn gut auf Sie zu sprechen?
Ich glaube schon. Ich hatte immer sehr nette Nachbarn. Ich glaube, die mögen mich. Einmal haben sie mir sogar beim Verlegen der Gleise für meine Garteneisenbahn geholfen.
Rennen die Nachbarskinder nicht weinend heim, weil Ihr Garten von Kreaturen bevölkert wird, die der Hölle entsprungen sein könnten?
Im Gegenteil. Die Kinder sind stolz auf mich. Manchmal werde ich nach Autogrammen gefragt. Aber ich bin froh, wenn man mich nicht erkennt.
Meiden Sie die Menschen?
Ich gehe nur an Anlässe, wenn ich muss.
Auf Ihrer Klingel steht: «Wir sind immer da.» Gehen Sie nie weg?
Ich habe praktisch keinen Kontakt. Interviews gebe ich auch nicht gerne. Weil ich nur mit Leuten normal reden kann, die ich gut kenne.
Was wollen Sie jetzt mit uns machen?
Ich bin einfach nett zu Ihnen. Ich will Sie nicht mit Ablehnung brüskieren.
Sie wohnen in ...
Entschuldigung, aber mir wäre es lieber, wenn Sie nicht schreiben würden, wo ich wohne.
Warum?
Ich will nicht, dass Leute hier einfach auftauchen.
Gut. Seit 37 Jahren leben Sie in einer ehemaligen Arbeitersiedlung in einem Aussenquartier von Zürich. Hier würde man viele Leute erwarten, Sie aber bestimmt nicht.
Mir hat es hier immer gut gefallen, weil ich ein bisschen versteckt bin. Furchtbar ist nur: Alle bringen etwas mit, aber raus geht nicht viel. Dann sammelt es sich halt in all den Jahren an. Das reinste Chaos.
Blick in die Sterne: Die «Schweizer Familie» lud prominente Persönlichkeiten ein und konfrontiert sie mit ihrem Geburtshoroskop.
Dieses wurde vorgängig von der Astrologin Daniela Anhorn erstellt und analysiert. Die Astrologin kennt den Namen des Gastes nicht. Ihr sind nur Geschlecht, Geburtsdatum, Geburtsort und Geburtszeit bekannt. Der Wassermann Hansruedi «HR» Giger wurde am 5. Februar 1940 in Chur GR als Sohn eines Apothekers geboren. Nach der Lehre als Hochbauzeichner absolvierte er in Zürich die Kunstgewerbeschule, Fachrichtung Innenarchitektur und Industriedesign. Seine erste Ausstellung fand 1966 statt. Weltweit bekannt wurde er 1980, als er für die Gestaltung des Monsters im Film «Alien» in der Kategorie «Visuelle Effekte» den Oscar gewann. Seither arbeitet er immer wieder für die Filmindustrie. Für Aufsehen sorgten seine diversen Plattencovers – unter anderem 1973 für die britische Rockband Emerson, Lake and Palmer («Brain Salad Surgery»). Die Astroanalyse von Giger ist am Ende des Gespräches eingestellt.
In der Astroanalyse steht, Sie würden gerne den bürgerlichen Rahmen sprengen. Sie leben aber in einem normalen, bürgerlichen Umfeld.
Es ist mir wohl.
Es bleibt aber ein Widerspruch.
Ausser meinen Bildern ist es hier doch recht bieder.
Aber mit Ihrer Kunst kratzen Sie gern an den gesellschaftlichen Grenzen.
Das macht doch jeder Künstler. Ich bringe das bürgerliche Leben und meine Kunst unter einen Hut. Oder haben Sie das Gefühl, das gehe nicht?
Wir fragen bloss, wie es funktioniert.
Es funktioniert bestens.
Vielleicht, weil Sie in einem bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen sind und in Ihrer Kunst versuchen, aus diesen Grenzen auszubrechen. Das zumindest vermutet unsere Astro-Analyse.
Ich habe immer geschaut, mit meiner Kunst im Rahmen zu bleiben, nicht anzuecken. Ich bin nicht ein Künstler, der die Menschen schockieren wollte. Im Grunde habe ich mein Werk für mich gemacht.
In der Analyse heisst es, Ihre Kunst sei eine Verarbeitung der Alpträume, von denen Sie als Kind heimgesucht worden seien.
Das kann man so sagen.
Was haben Sie damals geträumt?
Ich konnte es nicht ertragen, wenn Tiere geplagt wurden. Das ist mir dann in den Träumen hochgekommen. Eine Zeit lang litt ich als Kind unter Platzangst. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Das habe ich dann in meinen Bildern mit engen Käfigen und Kaminen verarbeitet.
Haben Sie heute noch solche klaustrophobischen Anfälle?
Einmal bin ich im Flugzeug total ausgeflippt. Es war in Mailand. Wir waren längst eingestiegen und mussten warten. Aber die liessen einfach die Ventilation nicht an, und es wurde immer heisser. Da hat es mich fast «verjagt». Irgendwann bin ich ausgerastet und habe mit der Faust an die Flugzeugwand gehauen. Aber es hat niemand reagiert. Es war grauenvoll. Fliegen ist eine üble Sache.
Waren Ihre Alpträume Ausdruck einer beklemmenden Kindheit?
Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern waren sehr lieb. Ich wurde nie geschlagen oder sonst schlecht behandelt.
Sie kamen 1940 zur Welt, mitten im Zweiten Weltkrieg. Haben Sie eine Erinnerung an die dunkle Zeit?
Woran ich mich bis heute erinnern kann, ist diese kollektive Furcht, die damals geherrscht hat ...
... und die Sie sich als Kind nicht erklären konnten.
Das war das Schlimmste daran. Zu spüren, dass etwas nicht stimmt, aber nicht zu wissen, was es ist. Und am Abend wurde manchmal die Wohnung abgedunkelt.
Haben die Eltern mit Ihnen über die Situation geredet?
Vater war Offizier und hat immer gesagt, er liesse sich von den Nazis nicht ohne Gegenwehr abführen. Wir hatten viele Waffen zu Hause. Und ich später auch.
Warum?
Ich habe einfach Freude an Waffen. Sie sind schön, haben eine faszinierende Mechanik.
Und zum Schiessen?
Die Freude am Schiessen ist mir beim Militär schnell vergangen. Ich habe die Rekrutenschule gemacht, Minenwerfer-Kanonier, leichte motorisierte Truppe, Winterthur. Ein schöner Schmarren.
Und wo ist jetzt die von der Analyse vermutete Verbindung zwischen den Erlebnissen aus Ihrer Kindheit und Ihren Bildern?
Da waren zum Beispiel die Treppen: In unserem Haus an der Storchengasse in Chur hatte es über der Treppe ein Fenster. Das war immer verschlossen. In meinen Träumen war das Fenster aber offen. Dahinter verbarg sich ein tiefer Schacht, in dem gelbes Licht strahlte und in den viele Treppen hinunterführten. Ich wusste damals schon, dass unter den Häusern von Chur Treppen zum bischöflichen Schloss raufgingen. Das hat meine kindliche Fantasie beflügelt.
Und Sie 20 Jahre später zu Ihren Schacht-Bildern inspiriert.
Genau. Für mich sind das Treppen in eine andere Welt.
War die Apotheke Ihres Vaters auch eine Quelle Ihrer kindlichen Inspiration?
Einmal bekam mein Vater von der Firma Sandoz einen Totenschädel geschenkt, er kam mit der Post. Den habe ich sofort behändigt.
Sie waren als Kind von einem Totenschädel fasziniert?
Wahnsinnig. Ich war etwa fünf. Am Anfang habe ich mich nicht einmal getraut, den Schädel zu berühren. Ich realisierte, das war einmal ein Mensch.
Sie fühlten sich zu Dingen hingezogen, die Sie ängstigten. Die Analyse kommt zum Schluss, dass Sie sich diese Ängste von der Seele gemalt haben. Haben Sie das auch so erlebt?
Erst viel später. Auf einmal merkte ich, dass die beengenden Träume verschwanden, sobald ich sie gemalt hatte.
Und wenn Sie dieses Ventil nicht gehabt hätten?
Dann hätte ich mich auf eine andere Art befreit. Man muss ja nicht nur malen, man kann ja auch schreiben.
Die Analyse vermutet, dass Sie sich am Rand des Wahnsinns bewegen.
Das klingt jetzt ein wenig hochgestochen.
Hatten Sie nie Angst, wahnsinnig zu werden?
Einige Male fürchtete ich, mich umbringen zu müssen. Ich hatte das Gefühl, es in meinem Körper nicht mehr auszuhalten. Aber das ist schon lange her, so um 1968.
Warum haben Sie Ihrem Leben kein Ende gesetzt?
Die Qual war offenbar doch nicht ganz so schlimm. Heute sage ich: Zum Glück habe ich es nie getan.
1980 stellt einen Wendepunkt in Ihrem Leben dar. Mit der Kreatur für den Film «Alien» wurden Sie weltberühmt.
Weltberühmt? Das ist doch ein Witz.
Nein. Sie erhielten für Alien einen Oscar. Der Film ist ein Kinoklassiker.
Das kam erst mit der Zeit. Anfänglich hat die Presse den Film verrissen.
Haben Sie Alien für den Film erfunden?
Es war umgekehrt. Ich hatte zwei Bilder, die Teile von Alien bereits beinhalteten. Zuerst wollte ich etwas Neues machen, doch Regisseur Ridley Scott sagte, das sei schon gut.
Genau genommen ist das Alien gar kein ausserirdisches Wesen.
Natürlich nicht, es lebt schon lange auf der Erde.
Es ist die Tiefseekrebsart Fronima, die sie inspiriert hat.
Die Ähnlichkeit ist tatsächlich frappant. Doch ich habe Alien gezeichnet, bevor ich von dem Krebs wusste. Fronima bekam ich erst vor zehn Jahren geschenkt – schön konserviert.
Sie haben eine Satellitenschüssel und schauen vor allem nachts Fernsehen.
Ich schaue manchmal sehr lange. Und wenn ich am Morgen erwache, läuft der Fernseher noch, aber keine Sendung mehr. Welches sind Ihre Lieblingssendungen?
Die Serien «King of Queens» und «Lost». Vor allem schaue ich wissenschaftliche Sendungen auf dem Discovery- oder dem History-Kanal.
In Ihrer Küche steht eine Figur von Alf, dem ausserirdischen Helden einer TV-Kinderserie. Gefällt er Ihnen?
Der ist gut. Seine Sprüche sind witzig. Der hat mir sofort gefallen.
Was sagt das Alien dazu, wenn sich sein Schöpfer mit anderen Ausserirdischen am Fernsehen vergnügt? Ich habe die beiden einander vorgestellt. Und?
Es ist nichts passiert, die beiden mögen sich. Schliesslich sind beide falsche Ausserirdische. Sie halten zusammen.
In Ihrem Garten stehen sogenannte Biomechanoiden, Wesen zwischen Mensch und Maschine. Stehen diese Kreaturen – wie die Analyse vermutet – für die gesellschaftlichen Ängste vor der Technologisierung?
Im Gegenteil. Ich denke, die Technologie unterstützt uns. Dank ihr können wir überhaupt überleben.
Im Moment wird zum Beispiel diskutiert, ob Menschen mit Beinprothesen von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden sollen, weil ...
... Menschen ohne Beine wahrscheinlich nicht so gut aussehen.
Nein, weil Menschen mit Prothesen bald schneller laufen können als Sprinter mit ihren eigenen Beinen. Das ist doch super. Damit wird Menschen mit einem Handicap das Leben erheblich erleichtert.
Ist der Mensch ein Auslaufmodell?
Wenn schon. Vielleicht «verjagt» es die Menschheit einmal. Dann ist es halt so. Es kann sein, dass wir es früher oder später nicht mehr im Griff haben.
Früher wollten Sie sich umbringen. Haben Sie heute Angst vor dem Tod?
Ja, schon, vor allem Angst vor dem Leiden. In meinem Alter wird man sich der eigenen Endlichkeit bewusst. Doch man weiss nie, wie lange es noch geht, es kann grad morgen fertig sein. In diesen Momenten wünsche ich mir, ich hätte noch ein bisschen mehr Zeit.
Glauben Sie ans Leben nach dem Tod?
Meine Frau Carmen glaubt daran. Ich bin da nicht so sicher. Das ist doch nur zur Beruhigung. Damit wir denken können: Da gibt es noch was.
Und die Vorstellung vom Nichts?
Die gefällt mir.
Astro-Analyse von H.R. Giger: «Er sucht das Unvermutete, Extreme»
Das vorliegende Horoskop spricht für eine ausgesprochen willensstarke, charismatische Persönlichkeit. Ein ausgeprägter Individualist und Exzentriker. Er liebt es, im Rampenlicht zu stehen. Der Fokus soll weniger auf ihn als Person gerichtet sein, seine schöpferischen Erzeugnisse sollen bewegen.
Als Wassermann will er die Grenzen des Bisherigen durchbrechen. Sein kreatives Talent hilft ihm, etwas Besonderes aus seinem Leben zu machen. In seinen Handlungen und Gedanken ist er zuweilen unberechenbar. Er ist ein Erfinder, der aufpassen muss, dass er sich nicht im Elfenbeinturm utopischer Ideen zu sehr von der Welt isoliert. Er hat etwas von einem schrulligen Professor, der zwischen Genie und Wahnsinn pendelt.
Er gefällt sich in der Rolle des Enfant terrible, das mit surrealen Ideen provoziert. Er sucht das Unvermutete, Extreme, Paradoxe. Er ist eine Kämpfernatur und bereit, sich auch mit unpopulären Schritten durchzusetzen. Dahinter kann sich indirekt eine Rebellion verstecken gegen die Konventionalität der Eltern. Obwohl er unter strengen Prinzipien der Erziehung gelitten hat, neigt er selber dazu, sich durch starre Prinzipien einzuschränken. Obwohl er die gesellschaftliche Normierung anprangert, ist es ihm wichtig, Respekt und Ehre zu erfahren. Trotz rebellischer Natur ist er empfindlich, was öffentliche Kritik anbelangt. Denn vermutlich hat er die strengen Prinzipien seiner Kindheit mehr verinnerlicht, als ihm lieb ist.
Mit eisernem Willen verfolgt er ehrgeizige Ziele. Sein Eigenwille macht ihn anfällig für Autoritätskonflikte. Weil er nie gelernt hat, der Gefühlsebene Beachtung zu schenken, kann er sich selber gegenüber sehr hart sein. Sicherlich kennt er Zeiten der Melancholie, Schwermütigkeit und Einsamkeit. Er kann zurückgezogen leben, und doch braucht er den lebendigen Austausch mit anderen. Auf der Beziehungsebene fühlt er sich zu originellen Menschen hingezogen, die durch einen rebellischen Zug aufgefallen sind.
Daniela Anhorn, Astrologin
Die Kunst von H.R. Giger kann im Giger Museum in Gruyere besichtigt werden. Es enthält die grösste Werksammlung und umfasst Bilder, Skulpturen, Möbel und Filmkulissen. Auch in seiner Heimatstadt Chur kann man seine Kunst an verschiedenen Orten näher kommen – etwa in der Giger Bar.
Das Interview mit H.R. Giger erschien am 22. November 2007 in der «Schweizer Familie».