SportlerinnenlebenLara Dickenmann: «Ich denke, ich hätte das Outing anders machen sollen»
Von Seraina Degen
1.5.2020
Sie ist die beste Fussballerin der Schweiz. Lara Dickenmann erzählt im Buch «Vorbild und Vorurteil» über ihr öffentliches Outing, das Klischees von lesbischen Fussballerinnen – und wie schwer es in Lyon gewesen ist.
Sind alle Fussballerinnen lesbisch? Natürlich nicht. Es ist nur eines von tausend Vorurteilen. Dass es lesbische Spitzenathletinnen in allen Sportarten gibt, erregt noch heute Aufmerksamkeit. Vielleicht, weil Sport ein solch emotionales Thema ist und viel Öffentlichkeit geniesst. Und weil klischierte Rollenbilder in unserer Gesellschaft nach wie vor stark verankert sind.
Die fünf Autorinnen sind Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen und Aktivistinnen. Das Quintett ist in der Sportwelt auf Spurensuche gegangen. Entstanden sind 28 sehr persönliche Porträts von Frauen aus unterschiedlichen Disziplinen wie Handball, Fussball, Ski Alpin, Leichtathletik, Boxen, Tanz, Rad oder Judo.
Denn noch immer gibt es Sportlerinnen, die sich nicht outen, aus Angst, Sponsoren zu verlieren. Andere Athletinnen gehen mit ihrer Homosexualität offen um. Jede Frau hat ihre eigene persönliche Geschichte, mal schön, mal schwierig, mal schön schwierig. Diese Publikation soll Vorurteile abbauen und neue Vorbilder schaffen.
In den Porträts erzählen erfolgreiche Athletinnen von ihrem sportlichen und persönlichen Werdegang – eine von ihnen ist die Fussballerin Lara Dickenmann: achtfache Schweizer Fussballerin des Jahres und mehrfache Champions-League-Gewinnern. Erst spät hat sie gelernt, zu sich zu stehen.
«Bluewin» publiziert exklusiv das leicht gekürzte Porträt über Lara Dickenmann. Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Lara Dickenmann: «Ich habe genug lange Rücksicht genommen»
Als Teenager war ich scheu, hatte wenig Selbstvertrauen. Das kam erst mit der Zeit, dank dem Fussball. Mit 14 Jahren spielte ich bereits in der höchsten Schweizer Liga, kam bald ins Nationalteam. Das ging alles sehr schnell und liess mein Selbstvertrauen wachsen. Ich hatte etwas erreicht. Neben dem Platz war ich allerdings zurückhaltend, verwirrt über meine eigene Gefühlslage. Ich wusste nicht, wer ich sein will.
Mit 13 Jahren war mir klar, dass ich lesbisch bin. Meine Freizeit verbrachte ich sowieso lieber mit Mädchen, und irgendwann verliebte ich mich in eine Klassenkameradin. Wir haben uns geküsst, so habe ich das bemerkt. Es war ein natürlicher Prozess, ich war verliebt und wollte ihr nahe sein. So, wie das für andere mit Jungs der Fall war. In mir drin hat es sich nie schlecht angefühlt.
Und trotzdem: Ich wollte nicht abgestempelt werden. Ich wollte nicht Fussball spielen und dann auch noch lesbisch sein. Dieses Klischee wollte ich nicht bestätigen. Es war für mich einfach zu früh, dazu zu stehen. Obwohl dies beim Frauenfussball eigentlich schön ist: Dass man so sein kann, wie man ist, und sich nicht rechtfertigen muss.
In meiner Jugendzeit in der Schweiz habe ich mich lange versteckt. In der Schule hat niemand gewusst, wer ich wirklich bin. Wobei, wahrscheinlich habe ich es selbst nicht so richtig gewusst. Im Nachhinein denke ich, dass ich das Outing anders hätte machen sollen – früher darüber reden oder dazu stehen. Aber eben: Ich hatte zu wenig Selbstvertrauen. Und als ich einem Kollegen einmal sagte, dass ich lesbisch bin, hat er mich nicht ernst genommen. Er hat es mir einfach nicht geglaubt. Was hätte ich sonst noch machen sollen? Deshalb habe ich lange geschwiegen.
Der Fussball war meine Flucht. Ein schöner Ort, wo ich sein konnte, wie ich bin. Auf dem Kleinfeld in Kriens gab es einen roten Hartplatz, da habe ich als Kind einen grossen Teil meiner Freizeit verbracht und bin dann mit sechs Jahren dem Verein beigetreten. Es war eine gute Zeit, wenn auch manchmal nicht ganz einfach. Ich war das einzige Mädchen und noch talentiert dazu. Jede Saison war ich in einem guten Team und habe viel profitieren können.
Viel später, nach dem Studium in Amerika, wechselte ich 2009 nach Frankreich und war erstmals in meinem Leben Profi – in einem richtig guten Team, das international erfolgreich war. Mit Lyon verbinde ich auch mein schönstes Fussball-Erlebnis auf Club-Ebene: der erstmalige Gewinn der Champions League. Dieser Titel war immer mein Traum – 2011 wurde er Wirklichkeit und ich habe sogar das Siegestor erzielt. Unglaublich.
Weniger gut war bei Lyon der Umgang mit dem Thema Homosexualität, das war eher ein Tabu. Wir haben es untereinander gewusst, aber nicht mal von allen. Und an die Öffentlichkeit getragen haben wir es schon gar nicht. Man hat sich eher versteckt. Auch, weil der Verein – bei allem Erfolg und dem vielen Geld – konservativ ist und nicht offen damit umgehen konnte. Ich habe mich nie versteckt im Verein oder in der Stadt, aber dem vorherrschenden Klima war ich mir schon bewusst.
Bei meinem aktuellen Verein, dem VfL Wolfsburg, ist das zum Glück ganz anders, da ist sind alle viel toleranter. Der Club ist offen, was das Thema Homosexualität anbelangt und in Wolfsburg fühle ich mich sehr wohl, mit dem Team und dem Staff und auch in der Stadt.
Im September 2018, ein Jahr vor dem Rücktritt aus dem Nationalteam, habe ich mich öffentlich geoutet. Im Schweizer Fernsehen wurde ein Porträt über mich ausgestrahlt, bei dem auch meine Homosexualität thematisiert wurde und durch das ich persönlich nur positive Reaktionen bekommen habe. Ich war endlich dazu bereit, öffentlich über mein Lesbisch-Sein zu reden. Ich wollte das einfach machen.
Denn irgendwann habe ich mich entschieden: Ich lebe mein eigenes Leben und wenn ich Lust habe, etwas zu tun, dann mache ich das auch. Sei es diesen Film oder ein neues Tattoo. Ich habe lange genug Rücksicht genommen, damit ist jetzt Schluss. Es war und ist mir heute ein wichtiges Anliegen. Als ich aufgewachsen bin, hatte ich niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Es gab in der Öffentlichkeit und vor allem im Sport keine Person, die dazu gestanden ist, lesbisch oder schwul zu sein.
Was meinen Öffnungsprozess betrifft, da bin ich überzeugt: Die Entwicklung wird mein Leben lang andauern. Das hat aber nicht nur damit zu tun, dass ich lesbisch bin, sondern auch mit meiner Persönlichkeit. Ich bin immer noch nicht 100 Prozent zufrieden mit mir. Aber mit 34 bin ich schon weiter als mit 20. Ich versuche einfach, jeden Tag ein besserer Mensch zu werden.
Jemand, der über alles offen reden kann, auch über die Homosexualität. Jemand, der anderen bei diesem Prozess helfen kann. Vielleicht kann ich nun einen Beitrag leisten und zeigen, dass man gut damit leben kann. Wenn es nur jemandem hilft, sich zu öffnen und sich mit sich selber wohler zu fühlen, dann hat sich mein Coming-out bereits gelohnt.
Dasselbe gilt für den Fussball: Ich versuche, den jungen Mitspielerinnen Halt zu geben, wenn sie Probleme haben, und ich teile mit ihnen meine Erfahrungen. Ich habe viel erlebt und glaube, dass mein Wissen und meine Erfahrungen anderen helfen können.
Bibliografie: Vorbild und Vorurteil – Lesbische Spitzensportlerinnen erzählen, Corinne Rufli, Marianne Meier, Monika Hofmann, Seraina Degen und Jeannine Borer, 272 Seiten, Hier und Jetzt, ca. 39 Fr.
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Performance-Künstlerin, selbstbekennende transsexuelle Anarchistin, Macho-Frau, seelisch Heimatlose, Model, Lieblings-Zielscheibe der Schweizer Boulevardpresse – Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Olivier G. Fatton begegnete Coco im November 1989 zum ersten Mal. Dieser «lichte und doch so schwermütige Engel» faszinierte den Fotografen vom ersten Moment an.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Bei einem Kaffee in einem Berner Schwulenlokal schliessen sie einen fotografischen Vertrag: Coco posiert für ihn und dafür dokumentiert Fatton ihre Geschlechtsanpassung.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Aus dem Pakt wurde eine Liebesbeziehung, in deren Verlauf Fatton zahlreiche Aufnahmen von Coco machte. Intime Porträts, ...
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
... inszenierte Modefotografie, zuhause, unterwegs, in Clubs und in den Bergen zeigen die zahlreichen Facetten der schillernden Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und immer wieder diese grossen, melancholischen Augen. Ihre Augen seien ihr zweiter Mund geworden, sagte Coco einmal.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und weil ihre tausendseitige Autobiographie von Dieben gestohlen wurde, erzählen uns diese Augen vom Leben einer Kameliendame des 20. Jahrhunderts – im Bildband «Coco», der dieser Tag erschienen ist.
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