Schiedsrichter-Experte Adrien Jaccottet ordnet die umstrittenen Szenen im Schweizer Strafraum ein und erklärt, wieso nicht Dan Ndoye, aber ein anderer Nati-Star froh sein muss, nicht vom Platz geflogen zu sein.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Die Schweizer Nati verlangt Deutschland im abschliessenden EM-Gruppenspiel alles ab und verpasst den Sieg nur knapp.
- Zahlreiche strittige Situationen sorgen nach dem Schlusspfiff für Diskussionen. Insbesondere DFB-Trainer Julian Nagelsmann zeigt sich mit der Schiedsrichter-Leistung unzufrieden.
- Schiri-Experte Adrien Jaccottet analysiert die entsprechenden Szenen im Gespräch mit blue Sport und sagt: «Die Linie hat nicht gestimmt.»
Um ein Haar kann die Schweiz den grossen Nachbarn im abschliessenden EM-Gruppenspiel in die Knie zwingen und Deutschland noch den Gruppensieg abluchsen. Doch kurz vor Schluss kann der Gastgeber noch ausgleichen und die drohende Niederlage abwenden.
Dennoch hadern die Deutschen nach dem Schlusspfiff mit dem Schiedsrichter Daniele Orsato. Und zwar gleich aufgrund mehrerer umstrittener Entscheidungen. blue Sport hat bei Schiedsrichter-Experte Adrien Jaccottet nachgefragt: Beklagen sich Julian Nagelsmann und Co. zurecht?
Die heissen Szenen im Schweizer Strafraum
Gleich mehrere Situationen im Strafraum von Yann Sommer lösen Diskussionen aus. In der 12. Minute geht Kai Havertz nach einem Duell mit Fabian Schär zu Boden. Orsato winkt sofort ab – und erhält Zustimmung von Jaccottet: «Das ist für mich zu wenig. Havertz macht noch einen Ausfallschritt nach rechts und initiiert so den Kontakt. Er sucht den Penalty, auch wenn das Einsteigen von Schär natürlich etwas ungestüm ist.»
In der zweiten Halbzeit wird Havertz allerdings erneut im Schweizer Strafraum angegangen. Nach dem Zurückhalten von Akanji lässt er sich diesmal aber nicht fallen. «Wäre Havertz zu Boden gegangen, hätte es wohl einen Penalty gegeben. Ich bin aber nicht der Meinung, dass man quasi abstrahieren und Penalty pfeifen muss, ohne dass ein Spieler fällt», sagt Jaccottet. «Zudem blieb Havertz in Ballbesitz. Für mich ist das eine Story, die man in Deutschland daraus gemacht hat.»
Doppeltes Glück in der Schlussphase?
Ganz anders lautet Jaccottets Urteil in der Szene mit Silvan Widmer, der in der 71. Minute Gegenspieler Beier förmlich umklammert. «Aus meiner Sicht muss Deutschland den Penalty kriegen. Widmer umklammert seinen Gegenspieler und verhindert, dass er ins Spiel eingreifen kann. Der Ball ist in der Nähe», hält der Schiedsrichter-Experte fest. Die Frage ist, ob es klar genug ist für eine VAR-Intervention. «Ich glaube, in einem normalen Super-League-Match hätte der VAR interveniert und es hätte Penalty gegeben. Da hat die Schweiz Glück gehabt.»
Und zwar doppeltes Glück. Denn Widmer sieht kurz vor Schluss für ein anderes Foul zurecht die Gelbe Karte. «Hätte es den fälligen Penalty (in der 71. Minute) gegeben, dann wäre das auch Gelb und dann hätte die Nati zu zehnt fertig gespielt – zumindest wenn Widmer das Foul trotz Vorbelastung begangen hätte.»
Richtig ist für Jaccottet dagegen, dass Dan Ndoye bis zu seiner Auswechslung auf dem Platz bleiben darf. «Beim Foul an Mittelstädt kann man durchaus eine Gelbe Karte zeigen. Im Fall von Ndoye wäre es die zweite Verwarnung gewesen. Aber im Gesamtkontext muss man sagen, die erste Karte ist aus meiner Sicht falsch. Das ist für mich ein normaler Zweikampf im Mittelfeld. In der Summe wäre es deshalb enorm bitter gewesen, wenn er da vom Platz geflogen wäre.»
«Die Linie hat nicht gestimmt»
Ebenfalls als korrekt stuft Jaccottet das aberkannte Führungstor durch Robert Andrich ein. «Grad nach dem Foul ist die Schweizer Abwehr unsortiert, Aebischer steht mit Verzögerung auf und läuft halbherzig aus dem Strafraum. Deshalb hat das Foul einen klaren Einfluss auf das Spielgeschehen», sagt der 40-Jährige. «Das ist ein korrekter Entscheid. Die Frage ist eher, ob es der Schiedsrichter nicht von Anfang an hätte sehen können?»
Ohnehin zieht Orsato, der als Kandidat für das EM-Endspiel gilt, nicht seinen besten Abend ein. «Orsato ist der erfahrenste Schiedsrichter des Turniers, das ist ein Top-Schiedsrichter. Es hat mich überrascht. Ich glaube, er wollte viel laufen lassen, pfiff dann aber offensichtliche Fouls auch nicht mehr», sagt Jaccottet und fügt an: «Zugleich zeigte er Ndoye für ein harmloses Einsteigen Gelb. Die Linie hat gestern nicht gestimmt. Und wenn man als Schiedsrichter auf der Suche nach der Linie ist, dann passieren Fehler, die einem Schiedsrichter wie Orsato normalerweise nicht unterlaufen.»