«Road to Tokyo» Judoka Kocher: «Vielleicht spielt einem das in die Karten, wenn insgesamt nicht zu viel los ist»

Von Richard Stoffel

14.7.2021

Fabienne Kocher bedauert, dass die Olympischen Spiele vor leeren Rängen ausgetragen werden. Sie bleibt aber zuversichtlich: «Man spürt vielleicht weniger Druck oder denkt nicht so viel an die Bedeutung des Anlasses.»
Fabienne Kocher bedauert, dass die Olympischen Spiele vor leeren Rängen ausgetragen werden. Sie bleibt aber zuversichtlich: «Man spürt vielleicht weniger Druck oder denkt nicht so viel an die Bedeutung des Anlasses.»
Bild: Keystone

Judo heisst auch «flexibler Weg». Fabienne Kochers Pfad zu den Olympischen Spielen nach Tokio ist ein Paradebeispiel dafür.

Von Richard Stoffel

Viele hätten ihre Karriere aus Verletzungsgründen schon längst abgebrochen. Nicht so die unbeugsame Zürcherin. Die 28-Jährige überwand im Laufe ihrer Karriere unter anderem zwei Kreuzbandrisse mit Korrektur-Eingriffen sowie zwei Meniskus-Operationen. Und dies alles im linken Knie, zu dem sie das Vertrauen mit Visualisierungs-Techniken erst wieder aufbauen musste.

«Road to Tokyo» – die Serie von blue Sport
Die Olympischen Sommerspiele sollen vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 in Tokio stattfinden.

Für viele Sportlerinnen und Sportler bilden die Olympischen Spiele den Höhepunkt der Karriere. Während etwa die weltbesten Tennisspieler und Fussballer permanent im Rampenlicht stehen, bietet sich vielen Athletinnen und Athleten nur alle vier Jahre die Gelegenheit, sich der breiten Masse zu präsentieren. Im Rahmen der Serie «Road to Tokyo» besucht «blue Sport» Fechter, Ringer oder Karate-Kämpferinnen und wirft einen Blick hinter die Kulissen in einer Zeit, in der so vieles ungewiss ist. 

Das Ende der Pechsträhne nutzte Fabienne Kocher zu einem Gewichts-Klassenwechsel vom 57-kg- ins 52-kg-Limit. «Ich wog dann ohnehin nur noch 54 kg im Alltag und es gab keinen Grund, mit Krafttraining mehr Muskeln aufzubauen, da ich mich auch mit dem tieferen Gewicht sehr leistungsfähig fühlte», sagt Kocher. Mit dem Gewinn von WM-Bronze im Vormonat in Budapest und dem damit verbundenen Last-Minute-Olympia-Ticket für Tokio wurde sie für ihre Neuausrichtung belohnt.

Auf der Zielgeraden abgefangen

Im Gegensatz zu EM und WM ist bei Olympia pro Limit nur ein Athlet pro Land startberechtigt. Der Kampf um den Olympia-Startplatz im 52-kg-Limit verlief aus Schweizer Sicht so eng wie noch nie zuvor. Evelyne Tschopp, die sich schon zwei EM-Bronzemedaillen erkämpfte und 2016 Olympia-Teilnehmerin in Rio war, gewann an den EM im Frühjahr noch das Direktduell gegen Kocher und wurde Fünfte.

Doch dieses und alle anderen Resultate wurden durch Kochers WM-Bronze übertroffen, und Tschopp damit auf der Zielgeraden abgefangen. Sowohl Kocher als auch Tschopp erfüllten die Qualifikationsrichtlinien und reisen nach Tokio. Die als «Ersatz» selektionierte Tschopp wird sich für ein mögliches Einspringen bereithalten.

Dass Kocher noch den Turnaround in der Olympia-Qualifikation schaffte, bezeichnet Nationaltrainer Alexej Budolin als «selbsterfüllenden Traum». Es war erst die zweite WM-Medaille im Schweizer Frauenjudo nach 1997, als Monika Kurath in Paris im leichtesten Limit (48 kg) ebenfalls Bronze holte.

Kocher holte sich im Juni WM-Bronze und sicherte sich so das Ticket für Tokio.
Kocher holte sich im Juni WM-Bronze und sicherte sich so das Ticket für Tokio.
Bild: Keystone

Budolin einst gegen Aschwanden unbesiegt

Zwar galt Kocher auch für den 45-jährigen Esten als gleichwertige Herausforderin für Tschopp im Kampf um ein Olympia-Ticket. Dennoch ging auch Budolin davon aus, dass die Hierarchie kaum mehr umgestossen wird. «Ich sagte Fabienne schon vor der Wiederaufnahme des Wettkampf-Geschehens, dass sie sich nicht auf die Olympia-Qualifikation, sondern auf ein Top-Abschneiden an den Weltmeisterschaften konzentrieren soll», betont Budolin gegenüber «blue Sport». Dadurch nahm er viel Druck von Kocher.

Budolin hat sich früher mit Sergei Aschwanden duelliert, dem heutigen Verbandspräsidenten von swiss judo. Dabei verliess er das Tatami in vier Vergleichen auf Top-Level ausnahmslos als Sieger, darunter bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney. Dort setzte er sich auf dem Weg zu Olympia-Bronze im Limit 81 kg zum Tagesauftakt gegen Aschwanden durch. «Ich war für Aschwanden einfach ein sehr unangenehmer Gegner. Ich selbst hatte ebenso meine Angstgegner», so Budolin.

Nils Stump nahm Stufe um Stufe
epa09254631 Nils Stump (in blue) of Switzerland in action against Aden-Alexandre Houssein (in white) of Djibouti in the men's -73kg category of the World Judo Championships in Papp Laszlo Budapest Sports Arena, Budapest, Hungary, 08 June 2021. EPA/Zsolt Szigetvary
Bild: Keystone

In Tokio wird Nils Stump (73 kg) die Schweiz als einziger Athlet im Männer-Feld vertreten. Der 24-jährige Zürcher Oberländer kämpfte sich Schritt für Schritt in die erweiterte Weltspitze. Nachdem er auf Junioren- und U23-Level schon EM-Bronze gewann, schaffte er dies nun in diesem Jahr erstmals auch bei der Elite. Der 24-jährige Zürcher Oberländer sagt: «Ich habe von Jahr zu Jahr dazu gelernt. Es ist die Summe der gesamten Arbeit über alle die Jahre hinweg, die zu meiner Olympia-Qualifikation führten.»

Im 73-kg-Feld wird Stump als Underdog antreten. Doch er sagt: «Aus den Top 10 der Weltrangliste habe ich auch schon zwei, drei Kämpfer geschlagen. Wenn ich einen guten Tag erwische, ist alles möglich.» An den diesjährigen EM in Lissabon war dies der Fall. Bei Olympia setzt er auch auf die Motivationskünste von Nationaltrainer Alexej Budolin. «Er vermag mich jeweils kurz vor einem Kampf sehr gut zu pushen. Dadurch ist mein Fokus jeweils enorm gestärkt.»  

Das Männerjudo debütierte 1964 bei den ersten Olympischen Spielen in Tokio. In Japan, dem Mutterland dieses Zweikampf-Sports, hatte Eric Hänni mit Silber für die Schweiz die erste olympische Judo-Medaille überhaupt geholt. Nach Hänni gewannen auch Jürg Röthlisberger (1976 Bronze, 1980 Gold) und Sergei Aschwanden (2008 Bronze) Judo-Olympiamedaillen für die Schweiz. Bei den Frauen gab es noch kein Schweizer Edelmetall. Allerdings ist das Frauenjudo auch erst seit 1992 olympisch.

Auch für Kocher gibt es aktuell zwei unüberwindbare Hürden; die Japanerin Uta Abe und die Französin Amandine Buchard. Gegen beide blieb sie bislang erfolglos. «Gegen rund 70 Prozent des Teilnehmerfeldes in Tokio weist Fabienne aber schon mindestens einen Sieg auf», so Budolin.

In der Ruhe liegt die Kraft

Dass ausgerechnet im Mutterland des Judo bei Olympia die Zuschauer ausgeschlossen sind, bedauert Kocher. «Die Stimmung wäre sicher eindrucksvoll gewesen. Denn beim dortigen Grand Slam gehen die Emotionen auf den Rängen jeweils sehr hoch», weiss sie. Es sei andrerseits für das Abrufen einer Top-Leistung vielleicht aber gar nicht so schlecht, wenn keine grossartige Olympia-Stimmung herrsche.

In der Ruhe könnte sie die Kraft für einen Exploit entwickeln. «Man spürt vielleicht weniger Druck oder denkt nicht so viel an die Bedeutung des Anlasses. Vielleicht spielt einem das in die Karten, wenn insgesamt nicht zu viel los ist.»  

Kocher, die im Alter von acht Jahren mit Judo begann, wird in Tokio nicht mit der ebenfalls durchgeimpften Ersatzkämpferin Tschopp logieren. Auch werden die beiden nicht miteinander trainieren. Denn im Falle eines positiven Corona-Tests einer der beiden würde es kein Schweizer Antreten im 52-kg-Limit geben, wenn Kocher und Tschopp im Vorfeld zusammen trafen. Kocher nimmt deshalb einen Junioren als Sparringspartner nach Tokio mit, der ansonsten im leichtesten Männer-Limit (60 kg) kämpft. «Wir trainieren schon seit rund einem Jahr zusammen und sind deshalb gut aufeinander abgestimmt.»