Wimbledon-Blog «Shut up Boris Becker!»

Aus Wimbledon: Roman Müller

6.7.2018

Redet laut meinem Gast-Vater viel zu viel Mumpitz: Boris Becker.
Redet laut meinem Gast-Vater viel zu viel Mumpitz: Boris Becker.
Bild: Getty Images

Er ist unser Mann in Wimbledon: Roman Müller berichtet vom grössten, wichtigsten, ältesten und überhaupt bedeutendsten Tennis-Turnier der Welt. Hier auch in Form eines Blogs.

Heute ist bereits mein fünfter Tag in Wimbledon. Ich wage es kaum auszusprechen, aber langsam gewöhne ich mich daran, dass ich hier bin. Jeder Tag ist in etwa wie ein Kinder-Überraschungsei – er bietet Spiel, Spass und Spannung.

Spannend ist es zum Beispiel jeden Tag aufs Neue, ob mein Arbeitsgerät funktioniert. Mein Notebook ist ein echter Morgenmuffel. Es funktioniert nie, wenn ich es zuerst einschalte. Meine Lösung: Ich fahre es runter, streichle es, klopfe sanft drauf rum, schüttle es – und voilà – es funktioniert wieder. Wie ein guter alter Röhrenfernseher. Spannend ist auch, die vielen Leute hier etwas zu observieren. Zum Beispiel die vielen verrückten Fans, die hier herrumlaufen. Vermutlich werde ich ihnen bald einen eigenen Blogeintrag widmen. Oder auch die anderen Journalisten. Womit wir bei meinem Sitznachbarn wären.

Hält immer wieder ein Schläfchen: Mein Büronachbar Ni.
Hält immer wieder ein Schläfchen: Mein Büronachbar Ni.

Ni im Einkaufswahn

Man muss sich vorstellen: Ich sitze hier in einem sehr kompakten Raum mit 10 bis 20 anderen Journalisten. Das variiert immer ein bisschen. Jeder Arbeitsplatz misst etwa einen Quadratmeter. Viele Briten, Deutsche, Amerikaner, Nauruaner, Vatikaner und direkt neben mir: Ein Chinese namens Ni.

Verglichen mit meinem Tag muss der von Ni echt hart sein. Denn der Arme ist im Gegensatz zu mir 80 Prozent des Tages auf der Anlage unterwegs und trägt deshalb meistens eine dunkle Sonnenbrille. Wobei, vielleicht trägt er die auch, um seine Augenringe zu verbergen. Immer, wenn er seinen Arbeitsplatz aufsucht, gähnt er zunächst mehrfach in die Welt hinein – und hinaus. Danach durchforstet er sein Handy zig Minuten lang nach dem perfekten Selfie und postet es auf einer chinesischen Social-Media-Plattform.

Dies dauert jeweils etwa eine halbe Stunde und scheint sehr anstrengend für ihn zu sein. Denn gleich danach macht Ni immer ein Nickerchen. Er legt einfach seinen Kopf auf den Tisch und schläft ein. Wieder aufgewacht blättert er erneut in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf seinem Handy rum, lacht etwas vor sich hin und zischt dann wieder ab für ein paar Stunden. Meistens kommt Ni sicher einmal am Tag mit Einkäufen zurück. Vorgestern waren es fünf vollgestopfte Plastiksäcke mit allerlei Zeug aus dem Fanshop. Heute war es ein fabrikneuer Milos-Raonic-Tennisschläger. Meine teuflische Theorie: Ni verprasst seine ganzen Tagesspesen für Souvenirs. Und weil er dann kein Geld mehr hat, um etwas zu essen zu kaufen, ist er jeden Tag so energielos und müde. Seinen Arbeitsplatz braucht er eigentlich nur für seine Mützen voll Schlaf oder als Ablage für seine Besorgungen sowie für sein Alibi-Notebook. Ich habe es ihn noch nie benutzen sehen. Unfassbar: Genau in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, nimmt Ni sein Notebook hervor und benutzt es. Deshalb Themawechsel.

Judy, die Unermüdliche

In den unzähligen Reaktionen per Brief- und elektronischer Post, die ich mir vorstelle erhalten zu haben, fragen die Leute auch immer wieder nach meiner Gastfamilie, die ich im letzten Bericht erwähnte. Da wäre zum einen Judy. Sie ist für meine Begriffe so typisch Englisch wie es nur geht – im positiven Sinne natürlich. Sie ist immer total freundlich, fürsorglich und saumässig ordentlich. Ich gebe mir zum Beispiel jeden Morgen echt Mühe, mein Bett zu machen - was ich zu Hause nie tue. Sie geht dann jeweils «nochmals drüber» und macht alles noch viel ordentlicher als ich.

Ausserdem hat sie sofort ein schlechtes Gewissen, wenn auf dem Frühstückstisch etwas fehlt, was am Vortag noch dort war und entschuldigt sich ausführlich dafür – auch wenn es nur eine Erdbeere ist. Ausserdem versucht sie jeden Tag den Filterkaffe zu perfektionieren, obwohl ich immer sage, dass er mir sehr gut schmeckt. Daneben erzählt mit Judy auch immer wieder tolle Anekdoten aus der Wimbledon-Welt – und zeigt mir etwa auch dieses Foto von der Notausgang-Grenze in einem der Stadien.

Falls man hier zu zweit sitzt, muss man bei einem Notfall getrennte Wege gehen.
Falls man hier zu zweit sitzt, muss man bei einem Notfall getrennte Wege gehen.
Bild: Judy Ruston

Der nette Joe rastet aus

Ihr Mann Joe, der «Womble», ist ebenfalls eine «Riesennummer». Ein richtiger Kumpeltyp, mit dem ich Abends nach der Arbeit gerne vor den TV sitze, um zum Beispiel gemeinsam den Klassiker «Bullit» mit Steve Queen zu schauen. Joe versorgt mich dabei regelmässig mit Detailinformationen zum Film, während er genüsslich einen Grappa trinkt. Natürlich schauen wir auch die Tageszusammenfassungen aus Wimbledon.

Boris Becker kommentiert dort für das britische Fernsehen. Als Becker zum Monolog ansetzt schreit Joe «Shut up Boris» und schaltet das Gerät auf stumm. Es sagt, dass er das immer tue, denn Becker rede nur Mumpitz. Er zieht das mit dem Stummschalten auch wirklich für den Rest der Sendung durch.

Joe ist eigentlich stets freundlich und gut gelaunt, mit guten Manieren. Nicht so wenn England Fussball spielt. Ich hatte nämlich das Vergnügen, mit ihm das WM-Spiel gegen Kolumbien zu schauen. Plötzlich wird aus dem höflichen Joe eine Schimpfmaschine sondergleichen. Da wird dann auch hemmungslos beleidigt und geflucht. «These bloody bastards» ist noch was vom Netteren, das er rauslässt. Der Rest ist nicht veröffentlichbar. Am Ende aber unglaublich: England gewinnt tatsächlich ein Elfmeterschiessen. Joe ist aus dem Häuschen und ich auch. Wir klatschen ab. Ich bin in jenem Moment drei Tage hier und es fühlt sich an, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.


Über den Autor
Roman Müller arbeitet seit bald 20 Jahren als Sportjournalist. Er ist seit früher Kindheit mit dem Tennissport verbunden. Als Spieler hat er es nie über R8 herausgebracht, trotz seiner gefürchteten Vorhand und wohl auch wegen kaum vorhandener Trainingsdisziplin. Als Tennisfan ist er jedoch als N1 einzustufen. Er ist stolzer Besitzer von 36 Roger-Federer-Caps, die er nicht sammelt, sondern trägt und somit natürlich befangen ist, was das Thema RF anbelangt. Seine Lieblingsfarben sind Violett und Grün, seine Lieblingszahlen 15, 30 und 40.

Das war im Frühjahr 2013, als ich schon einmal in Wimbledon war. Wenige Monate später sass Turnier-Sieger Andy Murray auf diesem Platz und beantwortete die Fragen der Journalisten.
Das war im Frühjahr 2013, als ich schon einmal in Wimbledon war. Wenige Monate später sass Turnier-Sieger Andy Murray auf diesem Platz und beantwortete die Fragen der Journalisten.

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