Kommentar Eklats und Entgleisungen: Tennis ist kein Sport mehr für Gentlemen

Von Syl Battistuzzi

10.1.2020

Bei Protesten kommen inzwischen Tennis-Schläger zum Einsatz, um Geschosse zurückzuschiessen. Während man hier um politische Anliegen kämpft, geht der Anstand im Tennis-Zirkus verloren.
Bei Protesten kommen inzwischen Tennis-Schläger zum Einsatz, um Geschosse zurückzuschiessen. Während man hier um politische Anliegen kämpft, geht der Anstand im Tennis-Zirkus verloren.
Bild: Getty

Die einst elitäre Sportart Tennis hat in den letzten Jahrzehnten eine starke Wandlung durchgemacht und sich geöffnet. Inzwischen haben aber die Auswüchse Überhand gewonnen. Ein kritischer Blick auf die Entwicklungen.

«Tennis is, and always has been, a sport of gentlemen» schreibt das Luxusmagazin «Gentleman's Journal» und listet zehn Gründe auf, wieso man als «Mann von Welt» Tennis spielen sollte.

Nach den jüngsten Ereignissen beim ATP-Cup ist die selbst ernannte Ritterlichkeit wohl nur noch Makulatur. Ein kurzer Aufwisch: Alexander Zverev beschimpft seinen auf der Tribüne sitzenden Vater, sodass dieser mit den Tränen kämpft. Stefanos Tsitsipas verletzt bei seinem Wutanfall sogar seinen Papa am Arm. Pablo Cuevas will wie ein trotziges Kind den Platz verlassen, weil er mit einem Entscheid des Supervisors nicht einverstanden ist und Daniil Medvedev rammt nach einem Disput mit dem Unparteiischen seinen Schläger an den Schiedsrichterstuhl.

Das Publikum benimmt sich nicht viel besser als die Protagonisten: Serbische Fans provozieren beim epischen Duell zwischen ihrem Liebling Novak Djokovic und Denis Shapovalov den Gegner aus Kanada dermassen, dass sich der Schiedsrichter mit einem in der Tennis-Geschichte wohl einmaligen Appell an die Zuschauer richten muss.



Die fragile junge Garde 

Es scheint, als hätten sich nun auch im Tennis Unsitten eingeschlichen, die in anderen Sportarten – Paradebeispiel Fussball – inzwischen gang und gäbe sind. Wahrscheinlich ist das Verhalten einiger Spieler einfach ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der verpöntes Verhalten nicht (mehr) zu sozialer Ächtung führt, sondern im Gegenteil noch (ab)gefeiert wird. 

Speziell die Dynamiken in den sozialen Medien haben die Anstandsregeln im zwischenmenschlichen Umgang verrohen lassen. So müssen etwa Spieler Morddrohungen über sich ergehen lassen, weil frustrierte Zeitgenossen ihre Wette in den Sand gesetzt haben. Auch die Frauen auf der Tour werden übel beschimpft – dabei hat sich speziell der Tennis-Sport schon früh emanzipiert gezeigt, so verdienen Frauen an den Grand-Slam-Turnieren auch gleich viel Preisgeld wie die Männer.

Doch anstatt die Spieler als Gralshüter des Anstands auftreten, treten sie den Sport des Öfteren mit Füssen. Besonders die junge Generation, welche die drei grossen Dominatoren Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic (bisweilen vergeblich) vom Thron zu stossen versucht, vergisst bei der Jagd auf die Spitze ihre Manieren und verliert regelmässig die Nerven.

Federer zeigt den (Aus-)Weg 

Dabei haben gerade die «Big 3» gezeigt, dass sich Fair Play und sportlicher Erfolg nicht gegenseitig ausschliessen. Speziell Roger Federer und Rafael Nadal sind auch auf der ganzen Welt Publikumslieblinge, weil sie ihrer Vorbildrolle auf und neben dem Platz gerecht werden. Als Belohnung bekommen sie dafür in den Big Points besondere Unterstützung von den Rängen, die sie oft erfolgreich ummünzen können. Diese gegenseitige Beziehung droht kaputt zu gehen, wenn Athleten und Publikum ungebührliches Verhalten an den Tag legen.

Federer-Fans streiten sich um ein Utensil ihres Idols.
Federer-Fans streiten sich um ein Utensil ihres Idols.
Bild: Keystone

Natürlich gab es auch schon früher Spieler, die keine Chorknaben waren. John McEnroe war beispielsweise berühmt-berüchtigt für seine Fluchtiraden und Emotionen, für die nicht selten ein Schiedsrichter herhalten musste. Doch das Publikum schätzte den Amerikaner, weil es spürte, dass hier ein Charakterkopf am Werk war, der den Sport liebt und schon fast besessen von ihm war. Ausserdem gewann McEnroe fast alles, was es im Tennis zu gewinnen gibt.

Von diesem Status sind ein Zverev oder Medvedev noch weit entfernt. Ihre überbordenden Wutausbrüche verleihen den farblosen Profis sicher kein Profil oder gar Charisma. Beim personifizierten «Bad Boy» der Tour, Nick Kyrgios, blitzt immerhin bei seinen Aktionen noch der Schalk auf.

Ein schmaler Grat

Niemand erwartet von den Spielern, tugendhaftes Verhalten wie Mönche im Kloster an den Tag zu legen, wo historisch wohl der Ursprung des Tennissports liegt. Doch sie sollten sich bewusst sein: Zwischen Emotionen zeigen und die gute Kinderstube vergessen, liegt ein schmaler Grat. Wie der Spagat am besten gelingt, können sie von «Mr. Gentleman» Roger Federer lernen, der in seinen Jugendjahren auch ab und zu die Kontrolle verlor und sich danach quasi selbst therapierte.

Heute ist er der erfolgreichste Spieler der Geschichte und wird 2020 der erste Tennis-Spieler, der sich Dollar-Milliardär nennen darf. Auf der Suche nach Geld und Ruhm sind wohl auch die meisten seiner (jungen) Konkurrenten.



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