Kolumne am MittagCorona-Krise – die ganze Schweiz ist jetzt eine Taskforce
Von Michael Angele
29.4.2020
Baumärkte, Raubgold, und Grosis, die wie Rapper klingen: Die ganze Schweiz ist jetzt eine Taskforce, findet unser Berner in Berlin, der Ausdruck ist sinnlos geworden.
Lange kam nichts. Habe angefangen und wieder abgebrochen. Einmal setzte ich zu einem kleinen Bericht über die Schweizer Botschaft in Berlin an.
Er handelte davon, wie ich in einer ausgestorbenen Umgebung der einzige Klient war, die Botschaft war endlich wieder da angekommen, wo sie vor Thomas Borer war: in der absoluten Ereignislosigkeit. Bedient wurde ich von einem unhelvetisch mürrischen Beamten, was mich aber nicht gestört hat. Im Gegenteil, ich wollte ihn spontan zu einem Bier nach Dienstschluss einladen. Aber wohin, es war ja alles zu.
Ein anderes Mal setzte ich zu einer Sprachglosse an. Es sollte um Unterschiede im Reden über die Krise gehen. Mir war aufgefallen, dass in Deutschland niemand Lockdown sagt, und mein Verdacht war, dass das in der Schweiz anders sein würde, schliesslich haben Anglizismen hier eine ganz andere Verbreitung. Man denke nur an den Fussball: Goal, Penalty, Corner – das alles sagt und schreibt in Deutschland keiner.
«Ich bin Risikogruppe»
Ich rief sogar schon meine Mutter an, die mir bestätige, das Wort Lockdown sei durchaus in ihrem aktiven Wortschatz, und, wenn wir schon dabei seien, würde dann nicht nur sie sagen «Ich bin Risikogruppe». Ja, sie würde «Ich bin Risikogruppe» nicht nur sagen, sie hätte es sogar schon geschrieben, an die Schwägerin, worauf meine Kolumne in Richtung Sprachkritik abbog, Grosis, die wie Rapper klingen, wo wird das enden?
Schlussendlich, gut helvetisch gesprochen, war ich beim Wort der Wörter angekommen. Ein Wort, das es in Deutschland praktisch nicht gibt, die Schweiz aber schon öfter gerettet hat, zum ersten Mal, glaube ich, als es um das Raubgold ging, unter Leitung von Thomas Borer, der dafür zur Belohnung den Posten als Botschafter in Berlin bekam (siehe oben): Taskforce. Die ganze Schweiz ist jetzt eine Taskforce, der Ausdruck ist sinnlos geworden.
Dazwischen versuchte ich es mit den Baumärkten, die in Deutschland nie geschlossen hatten, und nun in der Schweiz auch wieder öffnen (keine Sorge, die langen Schlangen gibt es nur am Anfang).
Gestern nahm ich nun einen letzten Anlauf. Diesmal ging es um Unterschiede im Diskussionsverhalten über Corona. Ausgehend vom Merkel-Wort über die «Öffnungsorgie», womit sie natürlich nicht ein promiskes Sexualverhalten ihrer Landsleute meinte (die lieber Klopapier als Kondome kaufen), sondern unverantwortliche Einlassungen bis in die Riege ihrer Ministerpräsidenten, wollte ich einen breiten Vergleich über die Diskussionskultur anstellen.
Der deutsche Daniel Koch
Mir schien, dass es solche Orgien in der Schweiz eher nicht gibt, aber sicher war ich mir nicht. Aber das war ein besonders aussichtsloses Unterfangen, mich überfordert ja schon die Zusammenfassung eines einzigen Beitrags des Virologen Christian Drosten (der deutsche Daniel Koch) über die Reproduktionszahl. Wie kann man eine ins Kraut schiessende «Debatte» nicht nur zusammenfassen, sondern auch noch vergleichen? Ein Irrsinn.
«Ich muss lernen, auf Sicht zu fahren», wie die Politiker sagen, weil sie es halt auch nicht so genau wissen. Ein Bild, das Nebel evoziert und so gar nicht zum blauen Himmel passt, der diese Krise auf kontra-intuitive und ganz angenehme Art begleitet. Aber auch damit ist es jetzt vorbei.
Immerhin: Die Ernte fällt nun nicht so schlecht aus, wie es befürchtet wurde.
Zum Autor: Der Berner Michael Angele liefert regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend. Angele bildet zusammen mit Jakob Augstein die Chefredaktion der Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».
Regelmässig gibt es werktags um 11.30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «Bluewin» die Kolumne am Mittag – es dreht sich meist um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Performance-Künstlerin, selbstbekennende transsexuelle Anarchistin, Macho-Frau, seelisch Heimatlose, Model, Lieblings-Zielscheibe der Schweizer Boulevardpresse – Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Olivier G. Fatton begegnete Coco im November 1989 zum ersten Mal. Dieser «lichte und doch so schwermütige Engel» faszinierte den Fotografen vom ersten Moment an.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Bei einem Kaffee in einem Berner Schwulenlokal schliessen sie einen fotografischen Vertrag: Coco posiert für ihn und dafür dokumentiert Fatton ihre Geschlechtsanpassung.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Aus dem Pakt wurde eine Liebesbeziehung, in deren Verlauf Fatton zahlreiche Aufnahmen von Coco machte. Intime Porträts, ...
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
... inszenierte Modefotografie, zuhause, unterwegs, in Clubs und in den Bergen zeigen die zahlreichen Facetten der schillernden Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und immer wieder diese grossen, melancholischen Augen. Ihre Augen seien ihr zweiter Mund geworden, sagte Coco einmal.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und weil ihre tausendseitige Autobiographie von Dieben gestohlen wurde, erzählen uns diese Augen vom Leben einer Kameliendame des 20. Jahrhunderts – im Bildband «Coco», der dieser Tag erschienen ist.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
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