Weihnachtsgeschichte Maria und Josef oder Roberto spinnt

Von Bruno Schlatter

24.12.2019

Illustration: Frank Baumann

Eine Adventsgeschichte vom Schweizer Schriftsteller und Fotografen Bruno Schlatter zum Vor- und Selberlesen für die ganze Familie, für Gross und Klein, Alt und Jung.

Die liebenswerten Geschichten aus dem Buch «Die himmelblaue Weihnachtstasse» von Bruno Schlatter spielen alle in der Schweiz. Geschrieben hat sie der Autor einst für seine beiden Söhne, heute liest er sie seinem Enkel vor.

Im Geschichtenerfinden und -erzählen hatte Schlatter ein grosses Vorbild, seinen eigenen Grossvater. Dieser unterhielt seine Enkel in einer Zeit, als es noch kaum Fernsehgeräte, geschweige denn Tablets und Smartphones gab, jeweils stundenlang mit selbst erlebten, aber auch selbst erfundenen Abenteuern.

Unvergessliche Abende, die Schlatter dann eben auch seinen beiden Söhnen bescherte. «Die himmelblaue Weihnachtstasse» und die anderen zehn bezaubernden Geschichten rund um die festlichen Tage unterhalten aber nicht nur, nein, sie zeigen in einer wunderbar unverkrampften Art auch auf, dass alles zwei Seiten hat. Zumindest dann, wenn man genau hinsieht.

«Bluewin» publiziert exklusiv das Kapitel «Maria und Josef oder Roberto spinnt». Leserinnen und Leser von «Bluewin» können das Buch direkt beim Verlag Wörterseh bestellen. Das Leserangebot ist am Ende des Buchauszugs zu finden.

Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.

Maria und Josef oder Roberto spinnt

In einer kleinen Schulgemeinde durften die Kinder die Weihnachtsgeschichte aufführen. Der Wirt des «Löwen» stellte grosszügig seinen Saal zur Verfügung. Die rund dreissig Schüler der ersten bis zur vierten Klasse hatten alle denselben Lehrer und teilten dasselbe Schulzimmer. Das gibt es eben auch heute noch.

Der Lehrer, Gottlieb Eggimann, wäre eigentlich schon lange pensioniert worden, aber mangels eines Nachfolgers liess man ihn weiter im Amt. Ja, man liebte das Traditionelle in dieser kleinen Gemeinde. Und zur Tradition gehörte auch die Weihnachtsaufführung der Schüler. Die tragenden Szenen – seit Jahren dieselbe Geschichte: Maria und Josef auf der Suche nach einer Unterkunft für eine Nacht. Bei der Rollenverteilung rissen sich die grösseren Jungen um die Hauptrolle, jeder wollte den Josef spielen.

Aber auch die Mädchen drängten sich vor, für die Rolle der Maria. Diplomatisch, so gut es eben ging, verteilte «Eggi», wie der Lehrer im ganzen Dorf genannt wurde, die Rollen. Er führte selbstverständlich auch Regie. Nur bei einer Besetzung gab es Probleme: Niemand wollte den bösen Gastwirt spielen, der dem jungen Paar so schroff den Eintritt in sein Gasthaus verwehrte und es so unbarmherzig wegjagte. So musste schliesslich Roberto, Sohn eines italienischen Gastarbeiterehepaares, das im «Löwen» in der Küche arbeitete, die Rolle übernehmen.



Er musste. Erstens, weil er noch nicht so gut Deutsch sprach, und zweitens, weil er mit seinem dunklen gekrausten Haar und den dunklen Augen am ehesten einem Bösewicht glich. Das war jedenfalls die Meinung der halben Klasse. Der kleine Roberto lernte seine Rolle schnell und gut. Lautstark schmetterte er an den Proben sein «Nein, von mir bekommt ihr kein Zimmer! Gesindel, verschwindet!» über die Bühne. Ach, wie hasste der Bub seine Rolle!

Wie gern hätte er den beiden armen Geschöpfen Maria und Josef doch ein Zimmer gegeben, sogar sein eigenes, wenn es sein müsste. Aber das hatte ihm der Lehrer eingebläut: Mit grimmiger Miene mussten die beiden weggejagt werden. Ja, so ein kleiner Schauspieler hatte es wirklich nicht leicht. Robertos Vater tröstete ihn und versprach, bei der Weihnachtsaufführung dabei zu sein. Und das bedeutete viel, denn er zeigte sich sonst kaum im Dorf.

Endlich war es so weit, der grosse Tag stand vor der Tür. Der «Löwen»-Saal war zum Bersten voll, viele mussten sogar stehen, einige zusätzliche Stühle holte man eiligst vom «Bären» gegenüber. Mit leuchtenden Augen standen die Kinder in ihren selbst gemachten Kostümen da. Vor allem Maria strahlte. Mit ihren Zapfenlocken war sie wunderschön anzusehen, die Mutter hatte sie am Nachmittag noch zum Coiffeur geschickt. Und wie sie spielten!

Der Lehrer Eggimann wurde immer stolzer, seit bald zwanzig Jahren hatte er keine so hinreissende Aufführung mehr miterlebt. «Eggi» – und ein paar Dorfbewohner mit ihm – bekam feuchte Augen.



Nun folgte der Akt beim Gastwirt, bei Roberto. Als Maria mit ihren schönen Locken um ein Zimmer bat, hätte es einen Stein erweichen können. Aber jeder wusste, was nun kommen musste, man hatte es bei den Proben Dutzende Male gehört. «Nein, von mir bekommt ihr kein Zimmer! Gesindel, verschwindet!»

Roberto stand da mit grimmigem Blick. «Ach, Wirt, hab Erbarmen, ich friere! Lass mich in dein Haus!» Roberto schaute immer grimmiger drein und setzte an, um seinen hundertmal geübten Satz in den Saal zu schmettern. Oh, wie er es hasste, vor dem ganzen Dorf Maria und Josef in die dunkle Nacht zurückzuschicken, ausgerechnet er. Doch plötzlich verschwand der dunkle Schatten aus seinem Gesicht, ja, es begann förmlich zu leuchten.

Mit fester Stimme sagte Roberto: «Kommt nur herein, ich gebe euch mein bestes Zimmer!», und bevor der Lehrer vor Schreck beinahe vom Stuhl fiel, fuhr er fort: «Und zu essen bekommt ihr auch, so viel ihr wollt!» Er griff Maria sanft bei der Schulter und wollte sie durch die Kulissentür in sein Gasthaus führen. «Spinnst du!», flüsterte Maria deutlich hörbar, während Josef ein noch deutlich unanständigeres Wort gebrauchte. Peinliche Sekunden vergingen, ehe der Lehrer endlich «Vorhang, Vorhang!» schrie. Der Vorhang wurde gezogen – die Weihnachtsaufführung war vorzeitig beendet.

«Roberto hat es tatsächlich fertiggebracht, meine Aufführung platzen zu lassen», wetterte der Lehrer später in der Gaststube. Roberto sass inzwischen mit verweinten Augen zu Hause am Küchentisch und versuchte, seinen Eltern das Malheur zu erklären. «Papa, ich konnte doch Maria und Josef nicht wegschicken, sie haben so gebettelt und waren so verzweifelt, und schliesslich ist Weihnachten!» – «Roberto, du magst ein schlechter Schauspieler sein, aber du bist ein wunderbarer Sohn!», sagte der Vater leise und strich ihm sanft über das dunkle gekrauste Haar.

Leserangebot «Die himmelblaue Weihnachtstasse»

Die Leserinnen und Leser von «Bluewin» können das Buch «Die himmelblaue Weihnachtstasse» unter dem Codewort bw19ht zum Spezialpreis von Fr. 24.90 statt Fr. 27.90 (inkl. Porto und Verpackung) bestellen. Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch, per Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder telefonisch unter: 044 368 33 68. Achtung: Bitte Codewort nicht vergessen.

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