Für «Bluewin» unterwegs (4/5) Max Küng auf der Suche nach dem Funkloch im Tresorraum

Von Max Küng

28.12.2019

Früher eine Knacknuss für die Panzerknacker-Bande: Die Türe zum Tresorraum der ehemaligen Volksbank, wo heute kein Gold und keine Diamanten gehortet werden, sondern schwedische Mode an den Mann gebracht wird.
Früher eine Knacknuss für die Panzerknacker-Bande: Die Türe zum Tresorraum der ehemaligen Volksbank, wo heute kein Gold und keine Diamanten gehortet werden, sondern schwedische Mode an den Mann gebracht wird.
Bild: Max Küng

Auf seiner Suche nach Funklöchern in der Schweiz zieht es Max Küng diesmal in den Keller. Er findet dabei wohl das schickste Funkloch hierzulande – an der Zürcher Bahnhofstrasse.


Das Beste aus diesem Jahr: Zum Jahresende bringt «Bluewin» die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 18. Juni 2019.


47°22'48.9"N

8°31'45.0"E

Irgendwo im Kosmos

«E.T. – Der Ausserirdische» ist ein Film, der schon ein paar Jahre auf dem buckligen Buckel hat (beinahe vierzig sind es). Die Geschichte jedoch, die in den 115 Minuten (Originalfassung, Neufassung 120 Minuten) erzählt wird, ist zeitlos.

Ein Grund wohl auch, weshalb das Märchen über den Ausserirdischen, der von seinen ebenfalls extraterrestrischen Kumpels bei einer überhasteten Abreise versehentlich auf der Erde vergessen wird, zu einem der kommerziell erfolgreichsten Streifen überhaupt wurde. Denn die im Film dargestellte Orientierungslosigkeit und die Einsamkeit des seltsam anzusehenden aber herzensguten Wesens rührt einen tief. Kennen wir nicht alle diese Gefühle aus unserer eigenen Kindheit? Die Verlorenheit? Das Alleinsein? Die Leere, die einen umgibt, als triebe man im dunklen Kosmos?

Weniger psychologisch betrachtet könnte man jedoch auch sagen: Die Probleme des kleinen Wesens namens E.T. rühren einzig und allein daher, dass er in einem Funkloch stecken blieb. Er ist auf der Erde gestrandet und will «nach Hause telefonieren», aber eben:

Der blaue Planet ist für den Weitgereisten (3 Millionen Lichtjahre entfernt ist sein Zuhause-Planet) nichts anderes als ein gigantisches Funkloch im Kosmos. Er kann seine Kumpels nicht anrufen. Deshalb die ganzen Probleme. Nur deshalb. Hätte er ein anständiges Handy, so hätte er keine Probleme gehabt. Nun, zu den Ausserirdischen und zum Kosmos kommen wir gleich wieder zurück.

Ein Blick in die Weiten des Kosmos? Denkste; bloss eine Lampe im Kino des Foyers.
Ein Blick in die Weiten des Kosmos? Denkste; bloss eine Lampe im Kino des Foyers.
Bild: Max Küng

Als ich meinen Bekannten und Freunden erzählte, dass ich für diese fünfteilige Serie zu einem furchtlosen Funklochjäger geworden sei, zu einem «Dead-Zone-Buster», sahen sie diese Berufung zwar als exotisch an, hielten sie jedoch auch für interessant.

Und man gab mir Tipps, wo Funklöcher zu finden sind, denn eine jede und ein jeder von uns ist schon einmal in eines hineingestolpert. Ein Freund sagte: «Wenn du beim Murtensee von Cotterd herkommend den Berg hochkommst und dann am Bois de l’Asse vorbeifährst, dort ist eines, das zwar klein ist, aber ich flieg beim Telefonieren immer raus.»

Eine Kollegin meinte: «Südlich des Ausflugsrestaurant Babental, nordöstlich der Deponie Pflumm, beim Randen – einem Hügelzug, der bis nach Deutschland hineinverläuft, genauer bis zu einem Ort namens Fützen –, bei Schleitheim im Kanton Schaffhausen, dort hockt ein Funkloch von beträchtlicher Grösse.»



Ein Bekannter sagte: «Im Puschlav hat es mehr Löcher im Handynetz als im Netz eines Fischers!» Wobei mir nicht ganz klar ist, wo der Zusammenhang zwischen dem Puschlav und einem Fischernetz bestehen soll, aber das sagte ich ihm nicht, sondern ich bedankte mich artig, denn die Sammlung von Funklöchern, sie wuchs. Die Funklochforschung schritt voran!

Für manche Funklöcher muss man gar nicht weit reisen. Man findet sie im eigenen Keller oder direkt vor der Haustüre. Das wohl schickste Funkloch etwa, das ist an der Zürcher Bahnhofstrasse zu Hause, genauer an der Hausnummer 53, im Untergeschoss. Früher befand sich dort der Sitz der Schweizerischen Volksbank, 1920 wurde das Haus erbaut, prächtig mit Marmor und Säulen, heute steht es unter Denkmalschutz und wurde unlängst sachte renoviert. So auch das Untergeschoss, das bei der Bank natürlich nicht einfach ein schnödes UG mit Pausenraum war, sondern der Tresorraum mit toller Panzerknacker-Eisen-Türe und vielen, vielen Schliessfächern, in der was auch immer (und weshalb auch immer) gelagert wurde.

Heimischer Denkmalschutz trifft auf schwedische Kühle. Das Funkloch im Untergeschoss an der Bahnhofstrasse ist auf jeden Fall eines: schick.
Heimischer Denkmalschutz trifft auf schwedische Kühle. Das Funkloch im Untergeschoss an der Bahnhofstrasse ist auf jeden Fall eines: schick.
Bild: Max Küng

Die Bank gibt es nicht mehr. Heute ist die zum H&M-Konzern gehörende schwedische Modemarke COS («Collection of Style») eingemietet, im ehemaligen Tresorraum findet sich nun die Herrenabteilung. Die Mode von COS ist meiner Meinung nach in ihrem Minimalismus ein bisschen fade – und leider wussten die Innenarchitekten von COS nur bedingt geschickt mit dem historischen Raum umzugehen, er wirkt seltsam verstellt und verstopft, aber das ist völlig egal, denn hier geht es ja weder um Mode- noch um Architekturkritik, sondern nur um das eine: das Funkloch! Und das gibt es dort.

Mitten in Zürich. Im Epizentrum der Einkaufswelt. Auch wenn die imposante Panzertüre unverschlossen ist: Das Funkloch ist da!

Aber zurück zu den eingangs erwähnten Ausserirdischen und zum Kosmos. Auch dort sei ein Funkloch zu finden, sagte eine Bekannte. Nun ist «der Kosmos» ein weiter Begriff, bezieht sich im Fall meiner Bekannten jedoch nicht auf die Lexikon-Definition von Kosmos als «die Gesamtheit von Raum, Zeit und aller Materie und Energie darin», sondern auf den Kino- und Kulturbetrieb (inklusiv Gastronomie) am hinteren Ende der Zürcher Europaallee, wo diese über weite Strecken artifiziell und blutleer daherkommende Shopping- und Erlebnismeile auf die Hauptschlagader des Zürcher Nachtlebens trifft: die Langstrasse.



Ich dachte: Ein Funkloch im Kosmos. Wie passend. Die Bekannte meinte, ich fände es im Saal des Kinos Nr. 2. Also fuhr ich hin. Und sowieso: Das Kino ist einer der wenigen Orte, an denen man sich noch sagen lässt, dass man auf das Handy verzichten soll, wenigstens für 90 oder 120 Minuten. Es gibt wenig Orte, an denen das Smartphone noch immer als unpassend gilt (früher gab es Restaurants, in denen das Handy in der Veston-Innentasche blieb, aber eben: früher ...).

Im Theater kann man es von den Besucherinnen und Besuchern auch noch verlangen, aber im Theater sind natürlich auch eher Menschen zu finden, die gewillt sind, auf ihr Handy zu verzichten, denn in jenen Kreisen gilt der sichtbare Verzicht sicherlich als eine Tugend. Jedoch weiss ich es nicht so genau, denn ich war schon lange nicht mehr im Theater. Seit Jahren nicht mehr. Irgendwie kommt es mir vor, als sei ich im Theater mal während einer Vorstellung eingeschlafen – und seither nicht mehr aufgewacht.

In den Weiten des Kosmos ist es ziemlich bequem. Die Stühle sind perfekt gepolstert. Das Allerbeste: Es gibt keine Pause. Der Film bleibt ein Ganzes.
In den Weiten des Kosmos ist es ziemlich bequem. Die Stühle sind perfekt gepolstert. Das Allerbeste: Es gibt keine Pause. Der Film bleibt ein Ganzes.
Bild: Max Küng

Im Saal 2 des Kosmos-Kino-Komplexes lief «Der Distelfink», den wollte ich mir ansehen. Eine Verfilmung eines Romans von Donna Tartt, welchen ich vor Jahren in den Sommerferien mit grosser Begeisterung gelesen hatte (erschienen im Jahr 2014 im Goldmann Verlag).

Man weiss: Romanverfilmungen bergen grosse Risiken, denn wie soll man den Stoff, der im Buch sorgfältig über 1024 Seiten ausgelegt wird (wie im Falle Distelfink), in 150 Minuten pressen, pferchen, drücken? Unmöglich. So ein Buch schreit doch eher nach einer Verfilmung als mehrstaffelige Netflix-Serie. So war ich nicht unglücklich, dass als ich zu spät im Kino ankam, der Film bereits seit einer halben Stunde lief.



Im Kosmos aber sind ja noch andere Filme am Start, der Kinobetrieb verfügt über viele Säle, also kaufte ich ein Ticket für «Ad Astra», einen Science-Fiction-Streifen mit Brad Pitt in der Hauptrolle, der in Saal 6 lief. Ich bin weder ein speziell grosser Fan von Science-Fiction noch von Brad Pitt, aber ich fand, dass das ein passender Film für ein Funkloch sein könnte: Ein Sohn sucht seinen Vater und reist dazu zum Mond, dann zum Mars, dann zum Neptun, wo sein Vater in einem Funkloch verschwunden zu sein scheint. So in etwa ist die Handlung von «Ad Astra». Eine in der näheren Zukunft angesiedelte «Heart of Darkness»-Thematik.

Ein weiterer Blick in die Weiten des Kosmos? Denkste; bloss ein streikendes Pissoir im Kino.
Ein weiterer Blick in die Weiten des Kosmos? Denkste; bloss ein streikendes Pissoir im Kino.
Bild: Max Küng

Das Kino im Kosmos: Toll! Bequemes Gestühl, Top-Sound und vor allem auch: keine Pause. Dafür kann man seine Getränke in Flaschen oder Gläsern mit ins Kino nehmen. So tauchte ich von der ersten Sekunde an ab in diesen Film, der nicht nur wunderbar anzusehen ist dank der genialen Kameraarbeit des in Horgen am Zürichsee geborenen Niederländers Hoyte van Hoytema («Dunkirk», «Interstellar»), sondern auch einen Soundtrack bietet, der alleine schon einen Besuch wert ist. Die Musik stammt von Max Richter, diesem genialen Komponisten, der nicht nur für die Deutsche Grammophon Vivaldis «Vier Jahreszeiten» entstaubt, sondern auch ein episches Stück über den Schlaf komponiert hat*.

Der Film: Ein Trip, an den ich noch Tage später zurückdenken sollte. Ach ja: Im Kinosaal 6 hatte ich die ganze Zeit über vollen Empfang. Trotzdem habe ich zwei Stunden nicht auf mein Handy geglotzt, meine Mails nicht gecheckt, nicht online Scrabble gespielt oder Fussballresultate verfolgt, sondern einfach den Film geschaut (und gehört). Eine grosse Leistung!

*«Sleep» von Max Richter erschien bei Deutsche Grammophon. Die Acht-Stunden-Version ist als Download oder Acht-CD-Set erhältlich. Die für Tagträumer gedachte Kurzversion gibt es als Vinyl und auf CD. Sie dauert 59 Minuten und 59 Sekunden.

Zum Autor: Max Küng

Max Küng, 1969 geboren, stammt aus Maisprach BL – dort wuchs er auf einem Bauernhof auf. Seit 20 Jahren schreibt er Texte und Kolumnen für «Das Magazin». Er hat Romane und andere Bücher publiziert, zuletzt

Max Küng
Max Küng
Bild: Dan Cermak

erschien die Kolumnensammlung «Die Rettung der Dinge» bei Kein & Aber. Derzeit arbeitet Küng an seinem neuen Roman, dieser wird im Frühling 2020 erscheinen. Max Küng lebt in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Söhne. Er fährt gern Velo.

Für «Bluewin» unterwegs

Der fünfte Teil der Serie mit Max Küng erscheint am Mittwoch, 16. Oktober, auf «Bluewin». Den dritten Teil der Serie finden Sie unter folgendem Link, den zweiten unter diesem Link. Und den ersten Teil hier.

Die Bilder des Tages
Zurück zur Startseite