Die Letzten ihrer Art Neugier statt Netz – der letzte Offline-Buchhändler

Nicolai Morawitz

16.2.2019

Luigi Longhena und sein kleines Reich.
Luigi Longhena und sein kleines Reich.
Bild: Bluewin/mn

Datenbank? Fehlanzeige. Suchmaschine? Nichts für ihn. Luigi Longhena ist seit Jahrzehnten Buchhändler in Bellinzona. Ebenso lang hat er in Schülern die Neugier für Bücher geweckt – und als Erwachsene kehren sie regelmässig wieder zu ihm zurück. Ein Portrait.

«Ich möchte, dass die Menschen neugierig bleiben»

«Ich möchte, dass die Menschen neugierig bleiben»

Kein Smartphone und kein Online-Bestellsystem: Der Buchhändler Luigi Longhena lebt noch in einer anderen Welt. Sein Buchladen im Herzen von Bellinzona quillt über vor Büchern und kleinen Aufmerksamkeiten seiner treuen Kunden.

11.02.2019

«Ciao, come stai?», «Tutto a posto?» – Luigi Longhena steht vor seinem Geschäft an der Piazza Indipendenza. Gerade sind wieder zwei bekannte Gesichter an seinem Laden vorbeispaziert, und der Buchhändler erkundigt sich, wie es ihnen geht. Den 79-Jährigen kennt hier am Rande der Altstadt Bellinzonas praktisch jeder. Er ist ein Bezugspunkt, ein Fels in der Verkehrsbrandung – sein Laden die kleine Oase inmitten des hektischen Treibens.

«Diffusione del sapere» – so steht es auf dem Leuchtschild über dem Buchladen, was so viel wie «Verbreitung des Wissens» bedeutet. Das ist auch zur Botschaft Luigi Longhenas geworden, und doch steht sein Laden inzwischen für sehr viel mehr.

«Diffusione» ist eine Institution und Longhena längst eineArt Stadtgedächtnis: «Dort drüben haben sie gebaut – das ist abgerissen worden, hier wurde die Fassade komplett verändert». Longhena weiss genau, welches Gebäude im Umkreis sich in den letzten Jahrzehnten wie verändert hat. Keine Bausünde, die nicht von ihm registriert wurde.

Die Piazza und die Weltliteratur im Blick.
Die Piazza und die Weltliteratur im Blick.
Bild: Bluewin/mn

Eigentlich hat sich alles verändert, seit Longhena in den 1980er Jahren an der Piazza Indipendenza begann – die Technik, die Politik, sein direktes Umfeld. Nur die drei Burgen thronen weiterhin unerschütterlich oberhalb von Bellinzona.

Zu «Amazon» fiel den Menschen  in den 80ern nur «griechische Mythologie» ein, und in der Weltpolitik herrschte noch der Kampf der Systeme: Wo Luigi Longhena damals stand, verrät heute noch sein Äusseres. Mit den langen grauen Locken und dem Rauschebart ähnelt er Karl Marx, dem Vater des Kommunismus.

«Ein bisschen Krippe, ein bisschen Klassenkampf»

Der 79-jährige Longhena war früher häufiger in Kuba und stand auch mit Exil-Kubanern in der Schweiz in Verbindung – ein Poster mit der Aufschrift «Volverán!», ein Fidel-Castro-Zitat, ziert noch heute die Wand seines Buchladens. Daneben hängen Kinderzeichnungen, die ihm seine treuen Kunden von ihrem Nachwuchs mitgebracht haben. Ein bisschen Krippe, ein bisschen Klassenkampf – und das alles auf ungefähr 25 Quadratmetern.

Die bunten Kinderbilder zeugen von einem Famlienglück, das Longhena nicht lange beschieden war. Er erzählt von seinem Sohn in Mailand, der nach kurzer Krankheit verstarb.

Longhena ist in der norditalienischen Stadt aufgewachsen und kam erst später ins Tessin. Dort lernte er auch seine Frau kennen, eine Radiojournalistin. Auch sie ist in der Zwischenzeit gestorben. Wer mit Longhena über diese schweren Zeiten spricht, hat das Gefühl, mit ihm auf seiner Arche und nicht in einem Buchladen zu stehen. Longhena hat sie bestiegen, seine liebsten Bücher mit an Bord genommen und schippert seitdem auf dem Meer der Trauer – doch ohne nach einem Hafen zu suchen. Er hält sich ganz einfach über Wasser.

Kindergarten und Klassenkampf eng bei einander. 
Kindergarten und Klassenkampf eng bei einander. 
Bild: Bluewin/mn

In Longhenas Arche stehen an allen Wandseiten deckenhohe Regale, die bis zum letzten Platz mit Büchern gefüllt sind. Den Überblick verliert der Inhaber aber nur ganz selten. Es scheint, dass er von einem inneren Kompass geführt wird, dessen Nadel die Richtung ändert, sobald Autorennamen und Themen im Laden laut ausgesprochen werden.

Bücher und Menschen zusammenbringen – bei dieser Aufgabe unterscheidet sich Longhena nicht von anderen Buchhändlern. Besonders ist aber, dass so viele Menschen nur in seinen Laden kommen, nur um ihn zu grüssen und um sich an ihre Schulzeit zu erinnern.

Diaspora im eigenen Land

Die Geschichte von «Diffusione del sapere» ist auch die Geschichte der Tessiner Diaspora im eigenen Land: «Einer ist zum Studium nach Lausanne gegangen, ein anderer Arzt in Zürich geworden», sagt Longhena. Häufig kommen diese Menschen nur noch an Feiertagen oder bei Familienfesten zurück in die Stadt – und zu ihm in den Buchladen.

Longhena weiss also ziemlich genau, welchen Weg die Schüler eingeschlagen haben, die einmal mit einer Schulbuchbestellung in der Hand und der Zahnspange im Mund vor langer Zeit bei ihm im Laden standen.

Der Stiefelabsatz Italiens als Schlüsselanhänger: Longhena stammt ursprünglich aus Mailand.
Der Stiefelabsatz Italiens als Schlüsselanhänger: Longhena stammt ursprünglich aus Mailand.
Bild: Bluewin/mn

Schulbücher sind bestimmt schon einige Tausend durch die Händen des Exil-Mailänders gegangen. Die Schulen gehören noch immer zu seinen besten Kunden, und in der italienischen Schweiz sind sie häufig auf Bestellungen aus dem südlichen Nachbarland angewiesen.

Denn für das kleine Tessin mit nur rund 350'000 Einwohnern wird nicht zu jedem Thema ein eigenes Schulbuch auf Italienisch aufgelegt. Also wagt sich Longhena regelmässig in seinem altersschwachen Peugeot in den Mailänder Dschungel, denn von Online-Bestellungen hält er nichts. Er hat auch gar keinen Computer und kein Smartphone, mit dem er sie ausführen könnte. Also klappert er die Grosshändler vor Ort ab. Immer wieder, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Der Wissenskurier

Er ist somit Grenzgänger im entgegengesetzten Sinn. In Mailand hält er an seiner Stammbar, trinkt einen Espresso und genehmigt sich ein Cornetto. Dann geht es über den mehrspurigen Autobahn-Ring wieder in Richtung Norden, vorbei an endlosen Industriezentren, bis nach Como und Chiasso, wo er sich am Zoll einreihen muss.

Die Rückbänke umgeklappt und mit vielen Bücherpaketen gefüllt rollt er dann in die Schweiz. Am Ceneri-Pass muss sein Kleinwagen noch einmal die letzte Kraft aus den Zylindern pressen. Dann ist es geschafft, die Fracht in Bellinzona angekommen.

Luigi Longhena kann wieder Wissen verbreiten, dort an der Piazza, im «Diffusione del sapere». Wie lange diese Arbeit noch möglich ist, darüber entscheidet nicht nur Longhenas Gesundheit, sondern auch sein Vermieter. Der hat nämlich angekündigt, das Gebäude grundlegend sanieren zu wollen. Wann es mit den Bauarbeiten losgehen soll, ist noch unklar – sicher ist dagegen, dass Longhena seine Bücher-Arche dann wohl räumen müsste.

Der Weise aus dem Bücherland.
Der Weise aus dem Bücherland.
Bild: Bluewin/mn

Serie «Die Letzten ihrer Art»

Nicht nur Sprachen, Kantone und Landschaften sorgen für die Vielfalt der Schweiz – es sind auch Berufe, Orte und Traditionen. Einige von ihnen könnten bald verschwunden sein. «Bluewin» hat deshalb die «Letzten ihrer Art» gesucht. In Bern sind wir mit dem Fährschiffer und Musiker Mich Gerber unterwegs gewesen, haben eine der letzten Zinngiesserinnen getroffen und Erich Baumann gefragt, warum er immer noch Schirme flickt.

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